Monday, 26 November 2012

Das dritte Tweet der Woche

No English translation follows the German text (because the post is too heavily based on a German piece of writing which is yet to be translated).

Guten Tag,
Heute erkläre ich euch das dritte Tweet der Woche. Das Tweet lautet:
"Zum Frühstück trank Uck immer einen Kaffee. Seine Frau trank lieber Tee. Eines Montags war der Kaffee vergiftet. Sie überlebte. Uck starb."
Also...
Der erste Satz erklärt eine Situation, die gut als Einleitung dient, weil sie ganz gewöhnlich ist. Auch durch den hohen Bekanntheitsgrad des Satzes kann man leicht das einzige unbekannte Wort "Uck" leicht verstehen. Uck ist offensichtlich eine Person, denn es sind Personen, die immer zum Frühstück einen Kaffee trinken. Durch die Unbekanntheit des Namens "Uck" wird jedoch Neugier beim Leser erweckt. Er fragt sich, "Wer ist denn Uck?", "Ist das ein Mann oder eine Frau?" Vielleicht macht er sich schon ein Bild von "Uck", um dann später zu gucken, ob im weiteren Verlauf der Geschichte seine Erwartungen wahr werden oder ob er überrascht wird.
Der nächste Satz fängt mit dem Begriff "Seine Frau" an. "Durch diesen ersten Begriff erfährt der Leser zwei Sachen:
1) Uck ist ein Mann
2) Uck ist verheiratet
Man könnte meinen, schon durch das erste Wort "Seine" zu erfahren, dass Uck ein Mann ist, aber theoretisch könnte sich "Seine" auf den Kaffee oder gar das Frühstück beziehen, beispielsweise wenn der Satz "Seine weiteren Komponente waren Bohnen, Champignons und ein von beiden Seiten gebratenes Spiegelei" oder "Seine Anfangstemperatur war immer hoch genug, um Uck genügend Zeit zu geben, die Sportseiten seiner Lieblingszeitung zu lesen, bevor er ihn austrinken konnte" wäre. Weil aber weder Frühstücke noch Kaffees Frauen haben können, wissen wir nach dem Wort "Frau", dass es sich um Ucks Frau handelt (weil wir ja vorher schon aus dem ersten Satz schließen konnten, dass Uck eine Person ist).
Dann kommt das Wort "trank", das wir schon im ersten Satz hatten. Das Trinken ist also ein dem Leser schon bekanntes Thema. Er erwartet also eine sinnvolle Verbindung zwischen dem "trank" in diesem Satz und dem "trank" im ersten Satz. Und durch das Wort "lieber", das einen Vergleich beschreibt, geht diese Erwartung auch in Erfüllung. Dann kommt das Wort "Tee", was als klassischer Gegensatz zum Kaffee fungiert.
Es ist typisch in solchen Geschichten (denken wir an die Story von Jack Sprat), einen solchen ja/nein (oder an/aus, schwarz/weiß) Gegensatz vorzustellen. Der eine geht links, der andere rechts. Dass die Personen, auf die sich dieser Gegensatz bezieht, dann Mann und Frau sind, ist auch relativ typisch in solchen Situationen. Durch diesen klassischen Aufbau wird das Vertrauen des Lesers auch gewonnen, denn er wird nicht allzu sehr herausgefordert und er kann sich auf die paar neuen Informationen konzentrieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er Folgendes gelernt:
1) Es gibt einen Mann
2) Der Mann heißt Uck
3) Uck trinkt gerne Kaffee
4) Uck ist verheiratet
5) Seine Frau trinkt lieber Tee als Kaffee, scheint aber mit ihrem Mann zusammen zu frühstücken
6) weitere Meinungsunterschiede zwischen den beiden Ehepartnern kann der Leser mutmaßen - er hat sie aber noch nicht bestätigt bekommen.
Der nächste Satz fängt mit dem Begrifff "Eines Montags" an. Dieser steht im Gegensatz zum Wort "immer" im ersten Satz. Der erste Satz war ja die Einleitung, die also die allgemeingeültige Situation dargestellt hat. Der jetztige Satz baut auf diesen auf - "eines Montags" ist auch schon ein Teil von "immer" - das heißt, der Leser weiß, dass auch "eines Montags" Uck Kaffee zum Frühstück trinken wird und dass seine Frau höchstwahrscheinlich Tee trinken wird. Es sei denn - natürlich - dass irgendwas dazwischen kommen sollte.
Die darauf folgende Information, dass der Kaffee (und der Leser versteht schon "der Kaffee, den Uck an diesem Montag zum Frühstück trank") an diesem einen Montag vergiftet war, ist schon erschreckend für den Leser. Er wird schon etwas Ungewöhnliches erwartet haben, weil das "eines Montags" an sich eine Situation andeutet, die nicht alltäglich ist. Sonst würde es ja "jeden Montag" heißen. Dieses Außergewöhnliche hätte jedoch natürlich etwas Schönes, Positives sein können.
Aber weil der Leser weiß, dass Uck immer Kaffee trank und dass seine Frau (implizit: ebenfalls immer) lieber Tee trank, kann er eigentlich schon ab jetzt den Rest der Geschichte vorhersehen.
"Sie überlebte" heißt der nächste Satz. Der logisch denkende Leser kann hier zufrieden rufen, "Natürlich! Weil sie lieber Tee trank!" Man zeigt dem Leser also, dass die Logik, die er aus seinem Alltag kennt, auch in dieser Geschichte funktioniert. Das heißt, er kann sich in die Situation hineindenken und erwarten, dass seine weiteren Erwartungen auch in Erfüllung gehen sollten, wenn sie durch die Informationen begründet sind, die die Geschichte ihm bisher geliefert hat. Das ist eine Funktion dieses Satzes.
Die zweite ist Folgende: "Sie überlebte" ist an sich ein ganz banaler Satz. Sowohl Uck als auch seine Frau überlebten ja fast jedes gemeinsame Frühstück, das sie zusammen genommen haben. Jedoch ist die Betonung - das heißt die Tatsasche, dass der Autor es für erwähnenswert hält, zu schreiben, schon ein Vorzeichen dafür, dass "sie überlebte" im Gegensatz zu etwas noch zu Kommendem stehen wird. Zumal der Leser (solange er sich konzentrieren konnte) weiß, dass Uck einen vergifteten Kaffee getrunken hat, was man in manchen Fällen ja nicht unbedingt überleben wird. Der Zufriedenheit, die mit der Erkennung der Funkionsfähigkeit seiner Logik folgt also höchstwahrscheinlich etwas weniger Genießbares.
Und in der Tat. Im letzten Satz geht die gruselige Erwartung des Lesers auch in Erfüllung, die er schon aus den Informationen weniger Sätze schließen konnte: Uck starb.
Damit ist die Geschichte auch erwartungsgemäß vorbei. Uck, der erste Charakter, der dem Leser vorgestellt wurde, ist natürlich die Hauptfigur der Geschichte und mit dem Ende seines Lebens ist seine Geschichte auch zu Ende: Uck starb.
Es bleiben jedoch Fragen offen. Der Leser weiß, wie Uck starb - durch das Trinken eines Kaffees - wie er immer zum Frühstück trank - der jedoch an diesem einen Montag vergiftet war. Aber warum? Das Wort "vergiftet" beinhaltet implizit einen Subjekt - die Person, die die Handlung vollbracht hat. Und wenn jemand hinter dem Vergiften von Ucks Kaffee steckt, muss diese Person gewollt haben, dass Uck stirbt. Denn man vergiftet (gewöhnlich) mit einem ziemlich bestimmten Ziel. "Eines Montags war der Kaffee kaputt/faul/hat der Kaffee scheiße geschmeckt" würde nicht dasselbe bewirken wie "vergiftet". Denn:
1) Der Leser würde nicht so genau kommen sehen, dass Uck stirbt
2) Der Leser hätte keinen allzu guten Grund, anzunehmen, dass jemand Uck umgebracht hat
3) Der Leser würde also nicht überlegen, wer das hätte sein können.
Und das bringt uns zum nächsten Punkt. Da die Geschichte dem Leser nur zwei Personen vorstellt, fällt der Vedacht quasi nach Ausschlussverfahren auf die Frau. Sie trinkt Tee, weshalb sie außer Gefahr ist, wenn nur der Kaffee vergiftet ist und andere zur Verfügung stehende Heißgetränke sauber bleiben. Zudem ist es ein bekanntes Phänomen in der Literatur, dass Frauen ihre Ehemänner (und andersrum) ermorden.
Also bleibt der Verdacht, aber eine klare Antwort auf diese Frage - die Frage nach dem Täter - liefert die Geschichte nicht. Ein solches Ende kann unter Umständen gewisse Unzufriedenheiten beim Leser auslösen, aber meist ist es vorteilhaft, mindestens eine Frage offen zu lassen, damit sich der Leser noch weiter über das Leserlebnis hinaus mit der Geschichte beschäftigt und sich Gedanken macht zum Schicksal und zu den Beweggründen der Personen. Das war hier beabsichtigt. Und ein solches Ende ist auch der Form eines 140-Zeichen-Tweets ganz gerecht.
Also...
Das war die Erklärung der Geschichte aus dichterischer und aufbautechnischer Sicht. Wer einen tieferen Sinn sucht, ihm wird natürlich nicht entgehen, dass der Satz "Uck starb" eine gewisse Klangähnlichkeit mit einer beliebten Kaffeehauskette hat. Und da er durch vergifteten Kaffee stirbt, ist dies wohl kein Zufall, sondern vom Autor beabsichtigt. Ob die Geschichte aber deswegen als Globalisierungskritik zu verstehen ist, das darf der Leser so interpretieren, wie er möchte.
Ich hoffe, euch hat die Geschichte gefallen.
Bis zum nächsten Mal.
Herr Bench

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